Erstmals findet 2012 ein Ableger des in Barcelona beheimateten Primavera-Festivals in Portugal statt. Porto ist eine ungemein charmante Stadt, dessen Reiz auch viele Jahre neoliberal geprägten Wirtschaftsbooms und Beton- und Glas-verliebter EU-Förderung nichts haben anhaben können. Immer noch steht ein großer Teil der Häuser in der Altstadt leer, und trotz deutlicher Anzeichen von Gentrifizierzung scheint die angestammte Bevölkerung in dem alten Zentrum der Stadt am Douro ausharren zu können. Nagelneue Metro-, Drahtseil- und Gondelbahnen zeugen vom Willen zur nachhaltigen Modernisierung, und die liebevoll restaurierten alten Straßenbahnen transportieren tatsächlich nicht nur Touristen, sondern sind in das übrige ÖPNV-Netz gut integriert. Am auffälligsten für deutsche Augen aber ist die reizvolle Mischung von ungekünsteltem Geschmack (traumhafte, kachelverkleidete Häuserfassaden!), „südländischer“ Freude am einfachen Leben (tolle Cafés) und Akzeptanz der Vergänglichkeit (verfallene, alte Industriebauten, über deren Verbleib im Stadtbild sich niemand auzuregen scheint). Ein bisschen wie Venedig…
Als Austragungsort haben die Veranstalter den Parque da Cidad ausgewählt, ein hügeliges, schönes Parkgelände zwischen der eigentlichen Stadt und dem westlichen Strand. Trotz heftigem Regenfall und mäßig warmen Temparaturen erwies sich das Gelände als sehr gut geeignet, auch wenn bei der Positionierung der Bühnen noch etwas Raum für Verbesserungen vorhanden ist (O-Ton Lee Ranaldo während seines Konzertes: „Oh, is it Wayne Coyne I can hear singing on the other stage?“).

Wie bereits in den Jahren zuvor hat Primavera wieder die Macher der All Tomorrow’s Parties Festivals verpflichtet, um das Programm für eine der Bühnen zu kuratieren. Und hier finden denn auch die tollsten Konzerte statt: Nach langer Zeit gibt es ein Wiedersehen mit Codeine, jener Band, deren bahnbrechendes Schaffen in den Jahren 1989 bis 1994 einen umgemeinen Einfluss auf (inbesondere US-amerikanische) so genannte Alternative Music hatte. Man denke nur an YoLaTengo, Low und viele Acts aus dem Umfeld des Kranky-Labels. Ihr Auftritt bei Primavera ist sensationell; die drei Instrumente plus Vocals kreieren einen Sog, dessen Klarheit im Angesicht der Unzulänglichkeit des menschlichen Realitätsverarbeitungsapparats schlichtweg niederschmetternd ist. Barely real, indeed! Damit konnte man bei einem Reunion-Konzert dieser Art wahrlich nicht rechnen. Ich bin baff.

Auch sehr toll der Auftrit von Shellac, dem langgedienten Trio von Produzenten-Tausendsassa Steve Albini. Superpräzises, reduziertes Drumming und ein ultraeffektiver Gitarrensound lassen keinen Zweifel daran, dass Albini genauestens weiß, wie ein Rocktrio klingen muss, wenn es gleichzeitig unprätentiös, subversiv und antirockistisch sein und trotzdem hart in die Magengrube kicken soll.
Im Vergleich dazu eher harmlos geriet der Set von Lee Ranaldo, der soeben seine erste straighte Soloplatte veröffentlicht hat. Wieder einmal beschleicht mich das Gefühl, das Sonic Youth und ihre eher massentauglichen Nebenprojekte verflucht nah an der Grenze operieren, die obercoole Abgebrühtheit von obermopsiger Selbstgefälligkeit trennt. Aber auch diesmal wieder wird die Linie nicht überschritten. Feines Konzert ohne Überraschungen.
Große Überraschung hingegen der Auftritt von Portugals very own Rafael Toral. Zu seinem Space Collective 3 zählen außerdem Riccardo Dillon Wanke am Rhodes Piano und Afonso Simões an den Drums. Toral selbst spielt „modified amps & electrode oscillator“, ein offensichtlich selbstgebautes kastenformiges Instrument, das er mit einer Hand hält und der anderen malträtiert. Und einen Schweinesound produziert! Während ich von seinen Platten und dem theoretischen Überbau, den er diesen beizugeben pflegt, den Eindruck eines eher kopflastigen Künstlers hatte, erweist sich sein Konzert als ungemein physisch und körperlich. Und es rockt wie nix gutes!! Das Grinsen auf meinem Gesicht ist breit wie der Rhein bei Rotterdam…

Auch Dirty Three lassen die Sau raus. In ihrem Fall handelt es sich um die Rampensau Warren Ellis an Violine und abgedrehten spoken intros. Nick Cave hat einen Narren an ihm gefressen, was mich nach dieser Erfahrung nicht mehr wundert. Heißer Scheiß!! Kickt Arsch!! Und das völlig ohne Vocals und anderweitiges Geplänkel.
Das Programm auf den anderen drei (deutlich größeren) Bühnen kann mit der Qualität der ATP Stage nicht mithalten, aber einiges vermag dann doch sehr zu überzeugen. Allen voran The XX, deren zweite LP offensichtlich kurz vor Veröffentlichung steht und deren Popularität wohl nie so groß war wie im Moment. Ihr Auftritt ist extrem konzentriert und auf den Punkt; er verlässt sich ganz auf die unterkühlte Ausstrahlung von Frontfrau/Gitarristin Romy Madley Croft und Frontmann/Bassisten Oliver Sim. Erstere erinnert mich sowohl als Instrumentalistin als auch optisch des öfteren an Tracey Thorn, was sicher ein gutes Zeichen ist. Neben den bekannten Stücken von ihrer ersten Platte umfasst das Set auch einige neue Songs, bei denen der Einfluss von Beatfrickler Jamie Smith stärker zur Geltung kommt. Das Publikum verfolgt das Konzert, das erst nach 2 Uhr nachts beginnt, völlig gebannt und mitgerissen; die nächtliche Stimmung mit dem Stadtpanorama im Hintergrund und der kühlen aber trockenen Frühsommerluft passt perfekt.
Während Saint Etienne, die Afghan Whigs, Mercury Rev und Suede mich kalt lassen und ich YoLaTengo einfach schon zu häufig fast identische Sets habe spielen sehen, kommt der Set von Yann Tiersen durchaus überzeugend; das klingt zwar sehr slick und etwas zu sauber arrangiert, hat aber viel Charme. Seine Songs machen Spaß und die Band ist tight.

Schließlich noch zu nennen sind Wilco, die von vielen von mir hoch geschätzten Kennern der Materie in den Himmel gelobt werden — was ich nie verstanden habe. Bei ihrem Live-Auftritt aber begann ich zu kapieren. Ihre häufig dekonstruktivistische Herangehensweise an Americana-beeinflussten, straighten Rock passt wunderbar in die Zeit, als mit Radiohead (nach „OK Computer“) und Konsorten die Postmoderne Einzug hielt in die Welt der ernstzunehmenden aber radiotauglichen Rockmusik. Das ist nun auch schon wieder eine ganze Weile her, und Wilco klingen im Jahr 2012 beinahe retro. Aber der Kontrast zwischen der Kernband, deren Sound für meine Ohren immer noch viel zu viel C&W-Einfluss durchscheinen lässt, und dem erst vor weniger Jahren hinzugekommenen Avant-Jazz-Gitarristen Nels Cline klingt verdammt zwingend. Cline, der soeben mit Jim Black und Tim Berne ein furioses Noisejazz-Album veröffentlicht hat („The Veil“), spielt wunderbar abgefahrene Gitarrenlicks, die den Himmel über Porto in feuerrotem Glanz erstrahlen lassen.